Liebe Eltern, liebe Schülerinnen und Schüler der FSB,
eigentlich wäre heute ein ganz normaler Schultag und für die Klassen 8-10 sogar eine besonders schöne Zeit. Die nämlich wären auf Klassenfahrt und man hätte am Strand von Valencia gelegen oder im Straßencafé in London gechillt.
Leider hat es – je nach Weltbild – das Schicksal oder Gott/das Göttliche oder der Kausalnexus der Natur (die reine Folge von Ursachen und Wirkungen in der Natur) anders bestimmt, dem wir uns fügen müssen.
Jede Krise beinhaltet bekanntlich auch eine Chance: die Möglichkeit der Veränderung, des inneren Wachstums und des Anwachsens der Kräfte.
Positive soziale Folgen der Situation sind meines Erachtens einmal das jetzt schon feststellbare Zusammenwachsen der Gesellschaft in der heutigen von Kommerz (wirtschaftlich-finanzielle Interessen) und Medien beherrschten Zeit, die unter anderem Egoismus und Vereinzelung haben anwachsen lassen. Gemeinschaftsgeist, gegenseitige Fürsorge und Rücksichtnahme sind nun endlich wieder auflebende Werte.
Weiterhin zeigt die jetzige prekäre (schwierig-missliche) Lage insbesondere Euch, liebe Schülerinnen und Schüler, dass das gesellschaftliche Gebilde, das so fest und unerschütterlich schien, äußerst fragil (zerbrechlich) ist, und Ihr auf viele liebgewonnene Dinge verzichten müsst. Plötzlich wird klar, dass sowohl Wohlstand als auch das ständige Verfügbarsein von Waren, Kultur, Vergnügungen und bürgerlichen Freiheiten nichts Selbstverständliches ist, sondern in einem Jahrhunderte langen Prozess erkämpfte Güter sind.
Können und sollten wir nicht für diese zivilisatorischen Errungenschaften zutiefst dankbar sein? Ist es nicht ein großes Wunder und eine unverdiente Auszeichnung, in dieses vielschichtige und gut funktionierende Staatsgebilde in Frieden und Demokratie hineingeboren zu sein, hier leben zu dürfen? Sollten wir nicht jede Minute für unser gutes Leben, unsere Gesundheit und den alltäglichen Erscheinungsformen von Mitgefühl, Liebe und gegenseitiger Unterstützung dankbar sein? Dankbar auch besonders für die kleinen und unscheinbaren Dinge des Lebens wie etwa des Lächeln eines Spaziergängers oder den wunderschönen Sonnenuntergang?
Die ungewohnten Einschränkungen machen Euch deutlich, dass wir die proteische (in ständiger Wandlung befindliche) Welt nur wenig im Griff haben und dass das Leben nicht vollständig planbar ist. Daher gilt es, beide Einstellungen zum Leben zu kultivieren: das rationale Voraus-Planen der Zukunft mit motiviert-kämpferischem Verwirklichungswillen und zugleich das demütig-hinnehmende Geschehenlassen des Unabwendbaren.
Allein voneinander unterscheiden zu können, was einerseits veränderbar ist, wofür geplant und gekämpft werden kann und was andererseits als unveränderlich hingenommen werden muss, ist eine der höchsten Lebensweisheiten, für die oft nicht einmal ein langes Leben hinreicht. Geistesgrößen wie Laotse in seinem „Tao-Te-King“ oder Ernst Bloch in seinem Monumentalwerk „Das Prinzip Hoffnung“ haben sich dieser Frage philosophisch angenommen. Die Lektüre ist allerdings nicht so einfach, daher etwas für Erwachsene und somit ein guter Lesestoff in dieser verlangsamten Zeit für Euch Eltern und später einmal für Euch jungen Menschen.
Persönlich würde es mich freuen, wenn Ihr, liebe Schülerinnen und Schüler, aus dieser Erfahrung einen Zuwachs an Welt- und Menschenerkenntnis gewinnen würdet sowie wenn Mitgefühl und aktives Helfen im Füreinander-Dasein, welche natürlich auch schon durch Anlage und Erziehung bei Euch in unterschiedlichem Maße vorhanden sind, weiter wachsen.
Immanuel Kant, auch ein bedeutender Philosoph, hat einmal gesagt, dass Worte und Begriffe von Geburt an erst einmal leer sind und durch Erfahrung mit Anschauung gefüllt werden müssen. Eure Großeltern oder Urgroßeltern haben durch die Kriegserlebnisse gelernt, verzichten zu können, auch bescheiden und dankbar für Weniges zu sein. Wir schienen bislang diese Tugenden nicht besonders nötig zu haben. In diesem Sinne wünsche ich abschließend, dass die bis jetzt noch für Eure Generation relativ leeren Worte „Dankbarkeit“, „Bescheidenheit“ und „Verzichten können“ durch diese Krise eine Anschauungs-Füllung erfahren und somit weitere bedeutungsvolle, erfahrungsgesättigte und in der Zukunft wirkmächtige Persönlichkeitsanteile von Euch sein mögen.
Liebe Grüße und bleibt alle weiterhin gesund!
Birger